RUDOLF ALEXANDER SCHRÖDER
Lebenslauf
Alter, wenn sich’s sagen läßt,
Sag, wie war dein Lebenslauf?
– Der mich freigab, hielt mich fest,
Der mich drückte, half mir auf,
Machte mich durchs Altern neu,
Machte mich durch Wachstum klein,
Stieß mich aus und blieb mir treu,
Gab die Welt: und nichts ward mein;
Hielt Gericht und sprach mich quitt,
Eh mein Frevel noch begann.
Was ich ward, und was ich litt,
Rätsel: deute sich’s, wer kann.
um 1920
aus: Rudolf Alexander Schröder: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Band 1. Klett-Cotta. Stuttgart 1957
Mit der Politisierung der Literatur nach 1968 fiel der konservative Ästhet und antikisierende Dichter Rudolf Alexander Schröder (1878–1962) in Ungnade. Den literarischen Aufklärern galt er als „fatal chauvinistischer Jugendverführer“ (so Peter Rühmkorf), weil er im patriotischen Überschwang zu Beginn des Ersten Weltkriegs die Hymne „Heilig Vaterland in Gefahren“ verfasst hatte, einen unrühmlichen Text, den die Nationalsozialisten später politisch instrumentalisierten. Aber in Schröders poetischem Universum spielen Heldenlieder eine marginale Rolle; weitaus interessanter sind seine geistlichen Lieder und seine formal vorbildlichen Existenz-Gedichte.
In spielerischer Weise, in kleinen blitzenden Paradoxien umkreist das vermutlich zwischen 1910 und 1920 entstandene Gedicht den menschlichen Lebenskreis. Und es zeigt sich, dass die Biografie eines Menschen meist nicht linear verläuft, einem überschaubaren Muster folgend, sondern in überraschenden Schwankungen und Widersprüchen. Ein „Lebenslauf“ umfasst meist keinen Königsweg, sondern eine hindernisreiche Strecke, Erfahrungen zwischen Euphorie und Niedergedrücktheit („nichts ward mein“).
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
Schreibe einen Kommentar