Rudolf Hagelstanges Gedicht „Denn Furcht beherrscht seit langem Eure Tage,…“

RUDOLF HAGELSTANGE

Denn Furcht beherrscht seit langem Eure Tage,
Furcht vor der Wahrheit. Eure Züge
sind fahl von Heuchelei und Lüge.
So wie das Zünglein an der Waage

den Gleichstand liebt, so sucht Ihr zu verbergen,
was Euch bewegt. Ihr braucht die Nächte,
um wieder Ihr zu sein: Verächter, Knechte,
Liebhaber, Günstlinge, Verschwörer, Schergen.

Ihr habt die Scham verraten, um in ihrem Kleide
das Licht zu täuschen, das die Wahrheit liebt,
auf daß es gleichfalls Eure Wege meide.

Ihr habt verwirkt, einander Recht zu sprechen.
Ihr ludet schreckliches Verbrechen
auf Euch. Ihr habt den Quell getrübt.

1944

aus: Rudolf Hagelstange: Lied der Jahre. Gesammelte Gedichte 1931–1961. Insel Verlag, Frankfurt a.M. 1961

 

Konnotation

Der kurze Nachkriegsruhm des Schriftstellers Rudolf Hagelstange (1912–1984) ist eng verbunden mit seinem poetischen Debüt, dem Sonettzyklus „Venezianisches Credo“. Im Sommer und Herbst des Jahres 1944 entstanden, beschreiben Hagelstanges Sonette die geistige Situation der Deutschen am Ende der nationalsozialistischen Gewaltpolitik. Die Fragen nach Schuld und Verantwortung, nach Wahrheit und Lüge, nach Verbrechen und Mitwisserschaft prägen diese Sonette.
Im Mittelpunkt des siebten von insgesamt 35 Sonetten steht die Anklage der Täter und willigen Vollstrecker der faschistischen Verbrechen, die mit List und Lüge die Wahrheit zu verbergen suchen. Hagelstange spricht von Verrat und Schamlosigkeit und verzichtet schließlich im letzten Terzett auf metaphorische Verschlüsselung. Die direkte Anklage richtet sich aber an ein Kollektiv, das namenlos bleibt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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