Rudolf Otto Wiemers Gedicht „hilfsverben“

RUDOLF OTTO WIEMER

hilfsverben

ich würde sagen wir sollten
ich sollte meinen wir hätten
ich hätte gedacht wir könnten

ich könnte schwören wir möchten
ich möchte annehmen wir müßten
ich müßte glauben wir würden

ich würde sagen wir müßten
ich müßte meinen wir möchten
ich möchte glauben wir könnten
ich könnte schwören wir hätten
ich hätte gedacht wir sollten
ich sollte glauben wir würden

ich würde sagen wir dächten
ich dächte das wär’s
würde ich sagen

1971

aus: Rudolf Otto Wiemer: beispiele zur deutschen grammatik. Fietkau Verlag, Kleinmachnow 1971

 

Konnotation

In die Ehrengalerie der „experimentellen Literatur“ hat man den leidenschaftlichen Pädagogen, Kinderbuchautor und Romancier Rudolf Otto Wiemer (1903–1998) nie aufnehmen wollen. Zu gering schien sein poetologischer Ehrgeiz, zu gefällig und trostbereit seine Gedichte. Dabei sind ihm zahlreiche vergnügliche und lebensweise Zeilen gelungen, die es mit den poetischen „Konstellationen“ bedeutender Autoren der Konkreten Poesie aufnehmen können.
Bis tief in die 1980er Jahre hinein hat der falsche Konditionalis der Wendung „Ich würde sagen“ die öffentliche Rede beeinflusst. Der Modus des Konjunktivs sollte den Redner entlasten, ihn von der schnörkellosen Direktheit seiner Aussage entbinden. Rudolf Otto Wiemer zelebriert in seinem Gedicht ein ironisches Vexierspiel mit den Vorbehalts-Beschwörungen der Konjunktive. Die Aufgaben der „Hilfsverben“ werden in ihr absurdes Gegenteil verkehrt – ihre Verschleierungs-Funktion wird kenntlich gemacht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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