SARAH KIRSCH
Nördlicher Juni
Die Nächte haben ihre
Eigenschaften verloren:
Weiße Stufen die
Horizonte mit
Rostroten Tüchern.
Wer hier hinaufspringt
Kann glücklich werden.
Dreimal rufe ich dich aber
Du bist nicht
Auf Erden.
2001
aus: Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005
In den nördlichen Regionen Europas werden die „weißen Nächte“ in den Tagen der Sonnenwende zum Zentralmotiv vieler Mythologien. Als mystische Offenbarung erscheint der „nördliche Juni“ auch in der poetischen Naturmagie der 1935 geborenen Dichterin Sarah Kirsch.
In den poetischen Miniaturen des 2001 publizierten Bandes Schwanenliebe findet sich diese lyrische Phantasie vom Aufstieg in höhere, himmlische Sphären. Die Phantasmagorie des Ich verwandelt die Juni-Nacht zur unendlichen Treppe mit „weißen Stufen“ vor „rostrotem“ Hintergrund. Aber die Phantasie springt weiter ins Transzendente: Der sehnsüchtige Ruf des Ich gilt einem abwesenden Du – ist diese namenlos bleibende Gestalt eine irdische oder eine überirdische Erscheinung? Die Autorin spielt jedenfalls mit biblischer Motivik und dem Tonfall des Gebets („Du bist nicht / Auf Erden“).
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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