SILKE SCHEUERMANN
Die Alpen werden geschlossen
Es schneit Jahre lang Jahrzehnte lang
Ich senke meine Kopf tief unter
den Spiegel des Mittelmeers
während die Bäume rutschend
den Breitengrad wechseln
Der Wind der sich in einen
vollkommenen Zirkel verirrt hat
flüstert daß er gerne hilft
aber nicht glaubt es würde besser
Die Alpen werden geschlossen
Wir kehren als letzte
sehr zögernd nach Hause
zurück
2001
aus: Jahrbuch der Lyrik 2003, Hrsg. v. Christoph Buchwald u. Lutz Seiler. C.H. Beck-Verlag, München 2002
Als im Jahr 2001 das lyrische Debüt der 1973 geborenen Lyrikerin Silke Scheuermann erschien, raunte man im Literaturbetrieb umgehend von einem neuen „Fräuleinwunder“ der Liebesdichtung. Aber beim „hingehauchten“ Märchentonfall, der ihr mancherorts unterstellt wurde, hat sich diese Autorin nie bedient. Die traumnahen Surrealismen und überraschenden Bildfindungen ihrer Gedichte sprechen mitunter von Bedrohungen, vor denen keine Rettung möglich scheint.
Etwas ist hier aus der Balance geraten: die Wetterverhältnisse, die Natur, der ganze Kosmos. Nichts ist mehr an seinem angestammten Platz und eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht. Wenn selbst – wie hier in einem grotesken Bild suggeriert das europäische Gebirge schlechthin „geschlossen“ wird, dann muss sich auch das lyrische Subjekt, das hier ein lyrisches „Wir“ ist, auf gewaltige Umwälzungen einstellen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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