STEFAN GEORGE
Ich bin der Eine und bin Beide
Ich bin der zeuger bin der schooss
Ich bin der degen und die scheide
Ich bin das opfer bin der stoss
Ich bin die sieht und bin der seher
Ich bin der bogen bin der bolz
Ich bin der altar und der fleher
Ich bin das feuer und das holz
Ich bin der reiche und bin der bare
Ich bin das zeichen bin der sinn
Ich bin der schatten bin der wahre
Ich bin ein end und ein beginn.
1914
Stefan Georges (1868–1933) Gedichtband Der Stern des Bundes (1914) gilt in der lyrischen Moderne als Gipfelpunkt poetischer Formstrenge: Er umfasst hundert einstrophige Gedichte mit einer Länge von sieben bis vierzehn Versen, jedes zehnte Gedicht ist gereimt – insgesamt enthält das Buch genau tausend Verse. Kritiker wie der jüdische Philosoph Martin Buber monierten die gesuchte Rätselhaftigkeit dieser Gedichte, „als ob ein geheimer Orden seine Regel, die in dunklen und bedeutenden Worten gehalten ist, drucken und verkaufen ließe…“
Die Überhöhung eines allmächtigen Subjekts, wie sie in diesem Gedicht aus dem „Ersten Buch“ des Gedichtbands zelebriert wird, hat auch sexuelle Konnotationen. Das Schöpfer-Ich vervielfältigt nicht nur seine Identität in ein multiples Ich, sondern definiert sich neu im Geschlechterverhältnis – durch die gleichzeitige Selbstzuordnung zur männlichen und weiblichen Position („Ich bin der zeuger bin der schoos“). George-Exegeten sehen den ganzen Band als Fortschreibung des homoerotischen Kults um den mit 16 Jahren verstorbenen Jungen Max Kronberger, den George zum Gott „Maximin“ erhoben hatte.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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