STEFAN GEORGE
Wenn ich heut nicht deinen leib berühre
Wenn ich heut nicht deinen leib berühre
Wird der faden meiner seele reissen
Wie zu sehr gespannte sehne.
Liebe zeichen seien trauerflöre
Mir der leidet seit ich dir gehöre.
Richte ob mir solche qual gebühre
Kühlung sprenge mir dem fieberheissen
Der ich wankend draussen lehne.
1895
Vom französischen Symbolismus Stephane Mallarmés und Charles Baudelaires herkommend, führte der Dichter Stefan George (1868–1933) einer „reinen Kunst“ das Heft. Als Marketing-Talent in eigener Sache, propagierte er seine Kunstideologie in Gedichten und ließ sie in den Blättern zur Kunst verkünden. Später wandte George sich zunehmend vom l’art pour l’art seiner Vorläufer ab zugunsten einer konservativen Erneuerung und gründete mit Anhängern den legendenumwobenen „Georgekreis“.
Das liedhafte Gedicht des sonst so herrscherlichen Dichters, der sich von seinen Bewunderern „Meister“ nennen ließ, wirkt überraschend sanftmütig und verträumt. Zwar lässt sich in diesem Gedicht die Wehmut eines in den innersten Kreis gelassenen Jüngers herauslesen, der völlig benommen von der erlebten apotheotischen Erscheinung, nach draußen wankend sich erhofft, wieder eingelassen zu werden. Diese Lesart verdeckt jedoch den zarten Lyrismus dieser trochäischen Zeilen, die auch als Klage eines verzweifelten Liebhabers gelesen werden können.
Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
Schreibe einen Kommentar