STEFAN GEORGE
Wir schreiten auf und ab
Wir schreiten auf und ab im reichen flitter
Des buchenganges beinah bis zum tore
Und sehen außen in dem feld vom gitter
Den mandelbaum zum zweitenmal im flore.
Wir suchen nach den schattenfreien bänken
dort wo uns niemals fremde stimmen scheuchten
In träumen unsre arme sich verschränken
Wir laben uns am langen milden leuchten
Wir fühlen dankbar wie zu leisem brausen
Von wipfeln strahlenspuren auf uns tropfen
Und blicken nur und horchen wenn in pausen
Die reifen früchte an den boden klopfen.
1898
Das höchste Gesetz des Lebens ist hier die gravitätische Bewegung. Keine wilde Natur, keine unkontrollierten Regungen, keine „fremden Stimmen“ dürfen die symmetrische Ordnung des Dichters Stefan George (1868–1933) stören.
Die Natur, die das lyrische „Wir“ durchschreitet, ist im erhabenen Raum des Parks domestiziert. In dieser Landschaft gibt es nur noch Artefakte – das Tor, das Gitter, die „schattenfreien bänke“, der „buchengang“. Selbst das „leise brausen“ des Windes wird in das künstliche Paradies eingefügt. Man hat dieses Gedicht aus dem Band Das Jahr der Seele (1898) als einen Akt der Selbstglorifizierung und Einsamkeits-Verherrlichung gelesen. Denn die rätselvolle Beziehung der Dichter verwandelte das „Wir“, das einst der fernen Geliebten gewidmet war, in ein abstraktes „Wir“, eingepflanzt in einen statischen Raum des Schönen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
Schreibe einen Kommentar