Theodor Fontanes Gedicht „Man wird nicht besser mit den Jahren –…“

THEODOR FONTANE

Man wird nicht besser mit den Jahren –
Wie sollt’ es auch? Man wird bequem
und bringt, um sich die Reu zu sparen,
die Fehler all in ein System.

Das giebt dann eine glatte Fläche,
Man gleitet unbehindert fort,
Und „allgemeine Menschenschwäche“
Wird unser Trost- und Losungswort.

Die Fragen alle sind erledigt,
Das eine geht, das andre nicht,
Nur manchmal eine stumme Predigt
Hält uns der Kinder Angesicht.

1895

 

Konnotation

In seinen „Sprüchen“ sammelte der große Erzähler und approbierte Apotheker Theodor Fontane (1819–1898) lakonische Lebensweisheiten, die von der Kunst der prägnanten Desillusionierung zeugen. In scheinbar braven Volksliedstrophen kommen solche Sentenzen daher, die dann aber alle friedvolle Betulichkeit aushebeln. Wer diese „Sprüche“ als abgeklärte Lebensbilanzen des damals bereits über Siebzigjährigen verbuchen möchte, stellt rasch fest, dass sich Fontanes subtiler Witz auch gegen die Gelassenheiten des Alters richtet.
Das 1895 um entstandene Gedicht resümiert die Lebensprogramme des Alters als ein System des Selbstbetrugs, in dem jede Verfehlung oder Gedankenlosigkeit mit dem Hinweis auf verständliche „Menschenschwäche“ entschuldigt wird. Erst in der Schluss-Strophe wird diese bräsige Selbstzufriedenheit irritiert durch die stumme Kritik, die in den Augen derjenigen aufscheint, die sich den elementaren Herausforderungen des Lebens erst noch stellen müssen. Fontane hält hier selbst eine „Predigt“ – wider alles vorschnelle Einverstandensein.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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