Theodor Storms Gedicht „Die Stadt“

THEODOR STORM

Die Stadt

Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohn’ Unterlaß;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
Am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.

1852

 

Konnotation

Mit seinem wohl berühmtesten Gedicht hat der Dichter und Novellist Theodor Storm (1817–1888) dem Nordseestädtchen Husum ein literarisches Denkmal gesetzt. Solche vorbehaltlosen lyrischen Liebeserklärungen, in denen nur das Adverb „eintönig“ die harmonische Atmosphäre stört, hat sich Storm nur selten gestattet. Meist zeigt sich sein lyrisches Ich bedrückt von der Erkenntnis, dass der Mensch „für sich lebt, in fürchterlicher Einsamkeit; ein verlorener Punkt in dem unermessenen und unverstandenen Raum“.
Als Storm 1852 diese Verse schrieb, wurde sein nordfriesischer Patriotismus gerade auf eine harte Probe gestellt: Aus politischen Gründen war er aus dem Juristendienst in Husum entlassen und des Landes verwiesen worden. Wie sein Freund, der Historiker Theodor Mommsen, hatte er sich am Unabhängigkeitskampf seiner schleswig-holsteinischen Heimat gegenüber Dänemark beteiligt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

3 Antworten : Theodor Storms Gedicht „Die Stadt“”

  1. Helmut Schweikert sagt:

    Ich habe dieses Gedicht soeben auswendig gelernt, was mir schwer fiel, weil die Wahl der Wörter teilweise wenig kohärent oder sogar unlogisch zu sein scheint. Es weht zunächst einmal der Wind, nicht das Gras. Die Hitze drückt, aber der Nebel? Ich war immer versucht zu sagen: der schrille Schrei, aber “hart” trifft es tatsächlich besser. Das Meer, das durch die Stille braust, auch recht gewagt. Meine grösste Schwierigkeit war “in Herbstesnacht”; das ist weit weg von der normalen Sprache. Aber das Resultat ist trotzdem eine geschlossene Einheitlichkeit. Ein wunderbares Gedicht.

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