Theodor Storms Gedicht „Geflüster der Nacht“

THEODOR STORM

Geflüster der Nacht

Es ist ein Flüstern in der Nacht,
Es hat mich ganz um den Schlaf gebracht;
Ich fühl’s, es will sich was verkünden
Und kann den Weg nicht zu mir finden.

Sind’s Liebesworte, vertrauet dem Wind,
Die unterwegs verwehet sind?
Oder ist’s Unheil aus künftigen Tagen,
Das emsig drängt sich anzusagen?

1872

 

Konnotation

An chronischer Schlaflosigkeit leiden viele große Dichter. Heimgesucht von „Nachtgespenstern“ (Eduard Mörike), wird die Insomnia zum Ausgangspunkt quälender lyrischer Phantasmagorien. „Ich möchte schlafen; aber du musst tanzen“ – heisst es etwa in Theodor Storms (1817–1888) berühmtem „Hyazinthen“-Gedicht von 1851. Ein weiteres großes Schlaflosigkeits-Gedicht des Spätromantikers aus Husum handelt von dem nächtlichen Geflüster widerstreitender Stimmen, deren Botschaften schwer zu dechiffrieren sind.
Das fortdauernde Flüstern versetzt den nächtlichen Grübler in einen Zustand der Unruhe, da die Stimmen im eigenen Kopf nicht zu enträtseln sind: Sind es begütigende Liebesworte, die da heranwehen – oder vielmehr Vorausdeutungen auf eine düstere Zukunft? Was Theodor Storm da 1872 in zwei schlicht gereimte Strophen gefasst hat, ist der Urzustand des ganz nach innen gewandten Zweiflers, der den eigenen Verunsicherungen nachhorcht – und unerlöst bleibt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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