THOMAS BÖHME
Ein Lumpensammler
EIN LUMPENSAMMLER steigt in seinen Wagen
und fährt dem Ziel entgegen
das die Karte weist.
Die Welt um ihn ist sehr verschwiegen
wofür sie ja nichts kann, doch Zweifel bleiben
ob sie ihn nicht zum Narren hält.
Ein Esel, der am Wegrand steht
nickt mit dem Kopf, er weiß es längst:
die Narretei ist Teil der Welt.
Einst zogen Kinder mit Lampions ins nahe Wäldchen
und kehrten heim mit glasig wirrem Blick.
Der Unhold der sie schreckte war längst übern Berg.
So trieb man eine Sau durchs Dorf die niemand kannte.
Die Lumpen waren blutig als man sie verbrannte.
2007/2008
aus: Poet No. 5, Poetenladen Verlag, Leipzig 2008
„Bei mir ist das Gedicht immer auch ein Körper, ein menschlicher Leib…“ Thomas Böhme, der 1955 in Leipzig geboren wurde, arbeitet als Lyriker, Essayist, Herausgeber und Fotograf. Viele seiner Gedichte sind nicht ganz in der Gegenwart verankert; sie erinnern teilweise atmosphärisch an die Zeit des Fin de Siècle.
„Ein Lumpensammler“ – auch die Figur dieses Gedichts ist der Vergangenheit entlehnt. Der Lumpensammler mit seinem unklaren „woher“ und „wohin“ war seinen Zeitgenossen verdächtig, und die „Welt“, die oft nicht sehr weit über ein bloßes Dorf hinausreichte, grenzte sich misstrauisch von jedem Außenseiter ab. Ein Kinderschänder hat Schrecken verbreitet, jetzt wird ein Sündenbock gefunden und vermutlich gelyncht. In einer distanzierten und doch klingenden, souveränen Sprache entsteht eine Art von moderner Moritat. Sie spricht von einer verschwiegenen und düster leuchtenden Welt, in der nur ein Esel, der gemeinhin für Sturheit und Dummheit steht, von der „Narretei“ weiß.
Sabine Peters (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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