Thomas Braschs Gedicht „Was ich habe, will ich nicht verlieren“

THOMAS BRASCH

Was ich habe, will ich nicht verlieren

Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin

1977

aus: Thomas Brasch: Kargo. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1977.

 

Konnotation

Die ihm zugedachte Bilderbuchkarriere in der DDR hatte der Dichter und „Individualanarchist“ Thomas Brasch (1945–2001) durch ästhetischen und politischen Eigensinn frühzeitig zerstört. 1968 wurde der Sohn eines hohen SED-Funktionärs wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte Flugblätter gegen den Einmarsch des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei in Umlauf gebracht.
1977 verließ Brasch die DDR, in der für seinen Lebenshunger und seine Poetik kein Platz mehr war. In seinem Gedicht aus dem Zyklus „Der Papiertiger“, 1977 erstmals im Band Kargo veröffentlicht, gerät das Ich in jene unaufhebbaren Paradoxien, die Braschs todesverfallene Figuren zu zermürben scheinen. Jeder Vorsatz, jeder Entschluss des Ich, jeder Vers wird durch ein „aber“ dementiert; in keinem gesellschaftlichen Zustand ist ein Bleiben möglich. Nur in der Utopie wäre eine Verharren auf Dauer möglich; dort, wo noch niemand war.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

44 Antworten : Thomas Braschs Gedicht „Was ich habe, will ich nicht verlieren“”

  1. Salomé sagt:

    Mir tut es auch gerade richtig gut, dass sich noch so einige andere in diesem Gedicht wiederfinden. Und dass es eben einen Menschen gegeben hat, der es geschrieben hat und somit diese Gefühle ausdrücken konnte, wozu ich selbst nie die Worte gefunden hätte.

    Neben Sartres Zitat „Der sensible Mensch leidet nicht aus diesem oder jenem Grunde, sondern ganz allein, weil nichts auf dieser Welt seine Sehnsucht stillen kann“ habe ich mich noch nie in den Worten eines Fremden so gut beschrieben gefühlt.

  2. Doreen sagt:

    Gerade sehe ich auch den Film ” In einem Land,das es nicht mehr gibt”.Bei diesem Gedicht musste ich zurückspulen und es mir Wort für Wort durch den Kopf gehen lassen,um zu dem Schluss zu kommen: Das bin gerade ich. Und deshalb ist es wohl auch so berührend für so viele,weil sie sich selbst darin erkennen…
    Beim Googeln bin ich nun auch hier gelandet und mir wird warm ums Herz,weil es sich so anfühlt, als hätten sich Gleichgesinnte in einem Raum getroffen.Ich danke euch allen für die Begegnung mit euch!
    Was Worte so können!

  3. Bettina Koch sagt:

    Hab dieses Gedicht gerade in dem Film „In einem Land, das es nicht mehr gibt“, kennengelernt. Danke an Aelrun Goette und Empfehlung für den Film von Aelrun Goette. Freue mich, dass ich Thomas Brasch und diese Seite dadurch entdeckt habe. Zu Thomas Brasch habe ich diesen lesenswerten Text im Spiegel Archiv gefunden https://www.spiegel.de/kultur/halts-maul-kassandra-a-ab87f009-0002-0001-0000-000095169309

  4. Beate sagt:

    Ich habe heute erst den Film zufällig in der Mediathek gesehen und na klar, auch gegoogelt.
    Hat mich sofort überrascht wie passend das ist, seit 2019 weiß ich nix mehr über meinen Sinn mehr.

  5. Cornelia sagt:

    Ja die betörende Kraft der Lyrik …

    Grade den Kollginnen-Film i. d. Mediathek gesehen und freue mich über das zauberschöne Gedicht.
    Habe früh schon meine Liebe zur Lyrik und ihrer Magie entdeckt. Lernen die jungen Menschen eigentlich noch Gedichte auswendig, in der Schule oder so? Habe selbst keine Kinder, bin Baujahr 1960.
    Neulich in einer Lifestyle-Zeitschrift im Café dies gefunden:
    ‘Ihr lest keine Lyrik? Seid Ihr wahnsinnig?’ – von einer Italienerin, Name weiß ich nicht mehr. Ich finds ultratoll 🙂
    Allen ein gesundes, friedliches und freundliches 2024!

  6. Sabine sagt:

    Das sind die Momente, in denen ich die Ver-Netzung des WWW sehr schätze:
    Worte, die über Räume und Zeiten hinweg Menschen berühren, eine Verbindung über das Gefühl erschaffen. Wie wunderbar
    Allen hier ein wundervolles, im besten Sinne Wort-reiches, gesundes Jahr 2024.

  7. Geli sagt:

    Ich freue mich so, dass es vielen Anderen so wie mir erging. An den Film kann ich mich auch kaum noch erinnern, aber dieses wunderbare Gedicht. Sofort gegoogelt. Kannte Thomas Brasch nicht. Und nun noch diese Seite gefunden. Danke.
    Allen noch ein gutes 2024.

  8. Josef sagt:

    An den Film kann ich mich nicht mehr erinnern, aber das Gedicht hat mich berührt. Thomas Brasch kenne ich jetzt auch.
    Der Film hatte also doch etwas Gutes 😉

  9. Beate sagt:

    Was für ein wunderbares Gedicht, was für ein zeitloser Text, was für eine tiefe Wahrheit für uns Irrlichter auf diesem Planeten.

    Allen ein gutes Jahr 2024.

  10. iris sagt:

    es ist einfach wunderbar dass in der heutigen zeit ein solches gedicht noch so lange nachhallt.
    ich muss es auch auswendig lernen.

  11. Annette sagt:

    Dieses schöne Gedicht, dass so viele Menschen beeindruckt hat, ist durch den Krimi “Kolleginnen” richtig bekannt geworden. Danke an die Personen, die das dort eingebracht haben. Dadurch hat auch der Film an Aufmerksamkeit gewonnen. Wirklich gut.

  12. Siegi sagt:

    Es gibt einen wunderbaren Film über Thomas Brasch: “Lieber Thomas”. Sehr sehenswert. Für Interessierte.

  13. HolgerW sagt:

    Auch wenn ich spät bin … Frohes Neues Jahr an alle Seelen-Verwandten… Ahnungslos Film geschaut … Gedicht gehört … Begeisterung… Google… hier!

  14. Birgit sagt:

    Lieber Joachim,
    ich glaube, die halbe Nation hat Google bemüht.
    Es ist aber wirklich ein berührendes Gedicht.
    So hat es sich gelohnt diesen Film zu schauen.
    Einfach erstaunlich…..

  15. Mirjam sagt:

    De film heb ik vanavond pas gekeken en…..tussendoor stop gezet om het gedicht op internet te zoeken. Wat velen al opmerkten: uit het hart gesproken en zo treffend verwoord!

  16. Sven-Olaf Miehe sagt:

    Hallo,
    bin auf Thomas Brasch auch über den Kolleginnen-Krimi gekommen. Habe vorher nichts von ihm gehört.
    Spannendes Gedicht, könnte auch meins sein. So war sehr lange Zeit meine Biografie.
    Wo ich jetzt allerdings bin, da will ich sein.
    Ich wünsche Euch allen ein glückliches Neues Jahr und dass Ihr ankommt, wenn Ihr das möchtet.
    Glück auf

  17. Thorsten sagt:

    Wie eine kleine Offenbarung, die Texte zu lesen. Mun liege ich wach und denke immernoch über das Gedicht nach. Ich kannte weder das Gedicht noch Brasch, aber gefesselt hat es mich wie Euch, es zu recherchieren , weil die Worte etwas aufklärendes für mich haben.

    Allen einen guten Start in 2024

  18. Gertrud sagt:

    Das Gedicht war das beste am ganzen Film. Auch mich hat es sehr berührt – mir wurde warm ums Herz. Warum habe ich vorher nie etwas von Thomas Brasch gehört?
    Ich werde nach mehr von ihm suchen.

  19. Joachim sagt:

    Und ich dachte nur ich würde danach googeln . Falsch gedacht!

  20. Bernd sagt:

    Schließe mich diesem Kommentar aus vollem Herzen an

  21. petra sagt:

    unfassbar, dass es doch so vielen Leuten genauso erging wie mir.
    Ja, dieses Gedicht hat mich ebenso nachhaltig berührt, wie euch alle….
    Manchmal findet man tatsächlich etwas Wertvolles wo man es nicht vermutet 😉

  22. Regina sagt:

    Manchmal sind Krimis eben auch gut für andere Dinge… ich habe auf diese Weise schon öfters Gedichte oder schöne Musikstücke entdeckt! Jetzt auch dieses Gedicht 🙂

  23. Joachim sagt:

    Durch einen Film auf etwas wunderbares gestoßen und jetzt stelle ich fest, ich bin nicht allein.
    Die Welt hält immer wieder Überraschungen bereit.

  24. Karola sagt:

    Ja auch ich habe mich in dem Gedicht wieder gefunden. Ich kannte den Schriftsteller auch nicht. (ich hatte auch den Film geschaut.)

  25. Sylvia sagt:

    Wie schön, dass nicht nur mich alleine dieses Gedicht so berührt hat…, auch ich habe gleich gegooglet, wobei der Autor mir schon etwas sagte und auch das Gedicht mir nicht ganz unbekannt war.

    Ja, der Film selbst war ok, aber irgendwie hätte man aus der Begegnung der Kinder mit dem entführten Nikolaus und dessen „Befreiung“ was Besseres machen können.

    Mit der poetischen Botschaft des Gedichtes geht es für mich ins neue Jahr…, mal sehen, was es uns allen bringt…..Guten Rutsch!

  26. AnnaHeike sagt:

    Schließe mich an, der Film war bescheiden, aber das Durchhalten hat sich für die Entdeckung von Thomas Brasch gelohnt. Ein Gedicht, dass so viel Seelentiefe und Sehnsucht hat. Sehr berührend.
    Allen einen guten Start ins neue Jahr.

  27. Sylvia Leichtenberger sagt:

    Wie schön, dass nicht nur mich allein dieses Gedicht so berührt hat…, auch ich habe gleich gegooglet…., wobei der Autor mir schon etwas sagte und auch das Gedicht mir nicht ganz unbekannt war.

    Ja, der Film selbst war so ok, aber irgendwie hätte man aus der Begegnung der Kinder mit dem entführten Nikolaus und dessen „Befreiung“ was Tolles machen können…

    Mit der poetischen Botschaft des Gedichtes geht es für mich jetzt ins neue Jahr…., mal sehen, was es uns allen bringt….Guten Rutsch!

  28. Ria sagt:

    Gisteren samen met mijn man de film gezien. We deden zonder het van elkaar te weten onderzoek naar dit heel bijzondere en prachtige gedicht van Thomas Brasch en hebben er nog een hele tijd over gefilosofeerd!

  29. Ellen Gangl sagt:

    Der Film gestern Abend, 30.12.2023, hat mich nicht wirklich interessiert, aber als die Nonne Thomas Brasch Gedicht sagte, wurde ich hellhörig. Ich spürte sofort – da ist was – was mich stark berührt hat und ich recherchierte. Ich fand mich auch wieder. Versuche das Buch zu bekommen.

    • Walli sagt:

      Ich sah den Film auch und mir wurde warm ums Herz, als ich das Gedicht von der Nonne aufgesagt…..hörte.
      Ich denke es trifft auf viele Menschen zu.
      Und es trifft immer den Nerv der Zeit!!!

      Ich kannte Thomas Brasch auch nicht, jetzt wird er ein Begleiter – Bücher etc. – in meinem Leben sein!!
      Wertvoll und gut!!

      • Frank sagt:

        Jemand die beim Lesen des Gedichts so empfindet hätte ich so gerne kennengelernt…

        • Heidrun sagt:

          Lieber Frank,
          dieses Gedicht drückt meine Sehnsüchte aus. Es hat mich so sehr berührt in dem Film, so dass ich es jetzt auswendig lerne. Ich schreibe dir jetzt einfach zurück, dir als Seelenverwandter?
          Ich wünsche dir, Frank, wer auch immer du bist, ein zufriedenes Neues Jahr.
          Herzlichst Heidrun

  30. Bruno sagt:

    Es ging wohl einigen gestern so, der Film war gelinde gesagt Müll, das Gedicht sprach mir aus der Seele.

  31. Jutta sagt:

    Meine Seele berührt.
    Worte für Unaussprechbares gefunden.
    Danke.

  32. Gabi sagt:

    Im Krimi gehört und war sofort fasziniert.

  33. Astrid sagt:

    Wie berührend schön ist dieses Gedicht.
    Ich habe es heute in einem Film gehört und sofort nachgeschaut, wo es zu finden ist.
    Karo von Thomas Brasch werde ich mir nun kaufen.

  34. Petra Klein sagt:

    Durch Zufall gefunden.
    Und mich selbst erkannt.

    • Claus-M.Becker sagt:

      Hallo Petra,
      Sie haben gestern vermutlich den gleichen Film geschaut wie ich und wohl auch aus dem gleichen Grund nach dem Autor Thomas Brasch recherchiert. (Kolleginnen, abgetaucht)

      Durch Zufall gefunden.
      Und mich selbst erkannt.

      Ich wünsche einen guten Start für 2024

    • Alexandra Dogkaki sagt:

      Genauso ist es mir passiert. Haben Sie übrigens die neue Folge von der Kolleginnen im Fernsehen angeschaut?

  35. Stefan sagt:

    Ich habe bis heute noch nie von T. Brasch gehört oder etwas gelesen. Das o.g. Gedicht finde ich sehr schön.

  36. Anne Fetzer -Moock sagt:

    Er will nicht dorthin, wo noch niemand war;
    Er will dorthin, wo e r noch niemals war!

Trackbacks/Pingbacks

  1. Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin – Ort der Kraft - […] Was ich habe, will ich nicht verlieren, aberwo ich bin, will ich nicht bleiben, aberdie ich liebe, will ich…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00