Thomas Rosenlöchers Gedicht „Am frühen Morgen“

THOMAS ROSENLÖCHER

Am frühen Morgen

Am frühen Morgen war ich aufgewacht,
als ich durchs Fenster unter mir im Garten
den Apfelbaum sah. Der war auferstanden
in dieser Nacht aus dieser dunklen Nacht
und schwerelos vor lauter Blütenschnee.
Mir schwindelte. Dies war der erste Tag,
der je begann. Vordem war Nacht, nur Nacht,
so sehr umschlossen hielt das hohe Blühen
des Universums Kraft. Die Engel sangen.
Und eingegangen war ich längst ins Weiß,
als sie schon draußen an der Tür anklopften.
Nicht ich, ein andrer kochte grad Kaffee,
packte sein Zeug, sah noch einmal den Baum,
der noch da stand, als wäre immer Frieden.

nach 1980

aus: Thomas Rosenlöcher: Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1998

 

Konnotation

Nur auf den ersten Blick erzählt dieses Gedicht von der Apfelbaumblüte, auf den zweiten ist es die kunstvoll gewebte Epiphanie eines Augenblicks, ein nicht untypisches Motiv des an Mörike geschulten sächsischen Romantikers Thomas Rosenlöcher (geb. 1947). Der Apfelbaum blüht nicht einfach, sondern ist „auferstanden“ aus einer dunklen Nacht und wieder zu seiner (alten?) Kraft gelangt. Engel sekundieren ihm und singen ihm zu Ehren.
Das Ich in diesem Gedicht ist von einem Schwindel ergriffen vor lauter Staunen und wird erst wieder in den Alltag zurückgeholt, als es plötzlich an der Tür klopft. Nun rüstet der Held – verwandelt – zu einer Reise oder auch nur zu einem Spaziergang. Das Ereignis der Baumblüte hat etwas in ihm ausgelöst. Unmöglich, jetzt zu verharren, zu bleiben. Einzig der Baum, auf den ein letzter Blick geworfen wird, bleibt wo er war, „als wäre immer Frieden“.

Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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