Thomas Rosenlöchers Gedicht „Der Garten“

THOMAS ROSENLÖCHER

Der Garten

Im Garten sitze ich, am runden Tisch,
und hab den Ellenbogen aufgestützt,
daß er, wie eines Zirkels Spitze,
den Mittelpunkt der Welt markiert.
Ein Baum umgibt mich mit vielfachem Grün,
und langsam steigt das blütenreiche Meer
des frühen Jahrs. Die Vögel brülln wie irr.
Über mich hin spazieren schöne Schatten,
und Blütenblätter fallen auf den Tisch
und schmelzen, Schnee! Die Äste triefen schwarz,
und von der Straße her kommt ein Geräusch,
das war mein Leben. Plötzlich bin ich Luft
und sitz noch hier und rede zu dem Baum,
ob er nicht doch die Länder wechseln könne,
sein unerhörtes Blühen aufzuführen,
wo einer noch mit seinem Ellenbogen
den Mittelpunkt der Welt markiert.

1982

aus: Thomas Rosenlöcher: Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1998

 

Konnotation

In diesem Frühlingsbild wird eine Urszene deutscher Dichtung aufgerufen, das Selbstporträt des Minnesängers Walther von der Vogelweide (ca. 1170–1230). Thomas Rosenlöchers Dichter-Ich nimmt fast exakt jene Position aus Walthers bekannter Spruchstrophe ein, wonach der Dichter, auf einem Stein sitzend, mit aufgestütztem Ellenbogen darüber nachsinnt, wie man in einer Welt voller Gewalt, in der „Friede und recht todwund“ sind, nach ritterlichen Idealen leben soll.
Der Garten ist für den modernen Romantiker Rosenlöcher (geb. 1947) der von Vergänglichkeit bedrohte „locus amoenus“, der wiederkehrende Topos für den harmonischen Einklang von Mensch und Natur. Doch die idyllische Erfahrung einer unversehrten Schönheit wird in dem 1982 erstmals veröffentlichten Gedichten gestört. Das plötzliche Innewerden der eigenen Vergänglichkeit lenkt das Dichter-Ich auf die Unruhe des Exils, in dem einer „öfter die Länder als die Schuhe wechselt“ (Brecht). Das lyrische Sprechen, eingebettet in eine erhabene Natur, erscheint in diesem Lichte nur als Zitat.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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