ULRICH KOCH
Ablied für S.
Ich ging zu Tisch und saß
mit Messer und mit Gabel
Der Vogel den ich aß
öffnete den Schnabel
Das Messer schnitt und wurde rot
Die Gabel brach die Brust entzwei
Ich lebte noch er war schon tot
Und ich aß und sang dabei
Ich kaute hungrig und sehr lang
bis ich den Geschmack verlor
Da kam der Gesang
aus meinem Ohr
2008
aus: Ulrich Koch: Der Tag verging wie eine Nacht ohne Schlaf. Lyrikedition 2000, München 2008
Schon immer boten sich dem Dichter Vögel als Identifikationsfiguren an. Als natürliche Sänger spielten sie für diejenigen, aus denen die Sprache singt, eine besonders symbolträchtige Rolle. Auch im folgenden Gedicht von Ulrich Koch, der 1966 in Winsen an der Luhe geboren wurde und heute in der Nähe von Lüneburg lebt. Hier lässt Koch das Totemtier auftreten, es wird aber wenig glimpflich mit dem tierischen Ahnen umgesprungen.
Die in ein Lied gekleidete Verschlingung des Sinnbilds vom Dichter durch den Dichter ist nichts weniger als brutal. Es findet eine geradezu kannibalische Einverleibung des Totemtieres statt, konterkariert durch einfache Reime und den beschwingten jambischen Rhythmus. Ist der Vogel erst ganz verschlungen, wobei der Esser beim Essen singt, wird der Kopf buchstäblich zum Tonträger, kommt der Gesang aus den Ohren heraus.
Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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