Ulrich Kochs Gedicht „Heiligabend“

ULRICH KOCH

Heiligabend

Mit den Glockenschlägen entlaubt sich der Wald
Der Wind schwenkt das Haus wie ein rauchendes Fass
In den Krippen liegen die neuen Puppen wach
Die Uhr tickt wie ein fallendes Tulpenblatt

2008

aus: Ulrich Koch: Lang ist ein kurzes Wort. Lyrikedition 2000, München 2009

 

Konnotation

Den Ritualen des Literaturbetriebs hat sich der Lyriker Ulrich Koch (geb. 1966) konsequent entzogen. Er führt nicht wie viele Dichterkollegen seiner Generation eine subventionierte Stipendiaten-Existenz, sondern arbeitet als Geschäftsführer einer Zeitarbeitsfirma, die Fachpersonal für die Altenpflege vermittelt. Die berufliche Unabhängigkeit des Autors korrespondiert mit seinem starken poetischen Eigensinn. Seine Gedichte setzen ein als unspektakuläre Alltagsszenen, bis sich plötzlich ein Riss auftut in der Welt und die Protagonisten aus allen Sicherheiten herausschleudert.
Kochs Vierzeiler zur „Heiligen Nacht“ dementiert die Gedichte und Lieder der christlichen Tradition, die das Fest zur Geburt von Jesus Christus mit Bildern der Freude und Friedlichkeit begleiten. Hier gibt es nun keine religiöse Verheißung mehr, die von „süßem“ Glockenklang flankiert wird („Süßer die Glocken nie klingen“), sondern allenfalls Vorahnungen des Niedergangs. Die Natur wird als feindselig beschrieben, das Jesuskind in der Krippe als reproduzierbare Puppe.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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