UNBEKANNTER DICHTER
Der Rabe und der Haushahn
Ein Rabe schleppte tausend Dinge,
Geld, Glaskorallen, Perlen, Ringe,
In seinen Winkel, wo er schlief.
Der Haushahn sah dies an, und rief:
„Was tust du, Freund, mit diesen Sachen,
Die dich doch niemals glücklich machen?“
„Ich weiß es selbst nicht“, sprach der Rabe.
„Ich hab’ es nur, damit ich’s habe.“
um 1750
Eine der folgenreichsten Schriften, die der als ,,Verspedant“ bespöttelte Dichter und Philosoph Karl Friedrich Ramler (1725–1798) je veröffentlichte, war seine Sammlung von Fabeln (1783 und 1790), die für die literarische Nachwelt zur Fundgrube wurde. Eine dieser Fabeln lässt sich als kritischer Kommentar zum Wahn des reinen Materialismus und der sinnfreien Schatzbildnerei lesen.
Man glaubt, in dieser Sammel- und Bereicherungs-Wut des Raben ein Exemplar jenes in unserer Gegenwart weit verbreiteten Typus des „Schnäppchenjägers“ vor sich zu sehen, der bei Internet-Auktionen sein Lebensglück darin findet, möglichst viele mehr oder weniger wertvolle Dinge zu erwerben, nur damit er sie in seinem Depot lagern kann. Die Funktion dieser Akkumulation von Wertgegenständen ist nicht erkennbar – aber der glückliche Besitzer vermag immerhin wie in der Ebay-Werbung freudig auszurufen: „Drei-zwei-eins: Meins!“
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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