UNBEKANNTER DICHTER
Es kummt ein Mann
Es kummt ein Mann,
der hat ein langen Mantel an
und sieben große Taschen drin.
Was hat der Mann denn bloß im Sinn?
Ich sehs ihm an den Augen an:
Wenn einer nit will artig sein,
so packt ern in die Taschen ein.
Der Mann geht fort
und schwimmt bis in den Rhein.
Gell, Bub, da willst artig sein?
19. Jahrhundert
Der Mann im langen Mantel, den uns Kinderverse in unterschiedlichster Gestalt annoncieren, ist nicht immer ein freundlicher Nikolaus oder ein wohltätiger Sankt Martin, der seinen Mantel mit einem Bettler teilt. Die pädagogischen Intentionen der Kinderreime artikulieren sich mitunter in offenen oder versteckten Drohgebärden. So kann der Mantelträger auch als Kindesentführer auftreten, wie in einem Kinderreim aus dem 19. Jahrhundert.
Zuerst werden im Märchenton die Absichten des geheimnisvollen Mannes noch offen gehalten. Dann erscheint er aber als strafende Instanz, die kindliche Unbotmäßigkeit mit Verschleppung und möglicher Ertränkung ahndet. Der schwarze Humor dieses kleinen Gedichts stellt eine These des Kinderreim-Sammlers Hans Magnus Enzensberger in Frage, der behauptet, dass die „anarchische Phantasie“ der Kinderverse grundsätzlich jeder „Autorität“ widerspreche. Im vorliegenden Fall scheint der Text eher die schwarze Pädagogik zu bedienen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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