UNBEKANNTER DICHTER
Großus Bärus
In des Waldes tiefsten Gründen
Ist ein großer Bär zu finden.
In des Waldus tieftus Gründus.
Ist ein großus Bärus findus.
In des Waldehirn tiefstchim Gründchim
Ist ein großchim Bärchim findchim.
In des Waldoli tiefstoli Gründoli
Ist ein großoli Bäroli findoli.
In des Waldlatsch tiefstlatsch Gründlatsch
Ist ein großlatsch Bärlatsch findlatsch.
1985
aus: Andreas Thalmayr: Das Wasserzeichen der Poesie, 1985
Der berühmte Anfang dieses recht skurrilen Gedichts geht zurück auf den romantischen Schauerroman Rinaldo Rinaldini von Christian August Vulpius (1762–1827) und auf Friedrich Schillers (1759–1805) Gedicht „Kassandra“. „In des Waldes tiefsten Gründen / ist ein großer Bär zu finden“: Diese Zeilen sind ins volkstümliche Liedgut eingegangen – freilich nicht die grammatikalisch wunderbar absurde Fortschreibung, die ein unbekannter Dichter des 19. Jahrhunderts zu verantworten hat.
Den Wörtern des alltäglichen Gebrauchs lassen sich Silben anhängen, die das Vertraute exotisch verwandeln. In Andreas Thalmayrs (ein Pseudonym Hans Magnus Enzensbergers) sprachspielerischer Anthologie Das Wasserzeichen der Poesie (1985) ist als Textquelle ein Gymnasiasten-Liederbuch aus dem Jahre 1877 angegeben. Parodistisch nachgeahmt wird im Text jedenfalls die Flexion des Lateinischen, Hebräischen, Italienischen und Lettischen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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