UNBEKANNTER AUTOR
Ich hab’ die Nacht geträumet
Ich hab’ die Nacht geträumet
wohl einen schweren Traum;
es wuchs in meinem Garten
ein Rosmarienbaum.
Der Kirchhof war der Garten,
das Blumenbeet ein Grab,
und von dem grünen Baume
fiel Kron und Blüten ab.
Die Blüten tät ich sammeln
in einen goldnen Krug;
der fiel mir aus den Händen,
daß er in Stücke schlug.
Draus sah ich Perlen rinnen
und Tröpflein rosenrot.
Was mag der Traum bedeuten?
Herzliebster, bist du tot?
vor 1775
Das todtraurige Gedicht über einen unglücklichen Träumer, der von einer Vorahnung des Todes befallen wird, hat der Pädagoge und Prediger Joachim August Zarnack (1777–1827) in seine 1820 veröffentlichte Sammlung Deutsche Volkslieder aufgenommen. Die dazugehörige Melodie ist, so belegen die Quellen, bereits vor 1775 entstanden. Der Text selbst ist vermutlich eine Kompilation nach Motiven des Volkslied-Dichters Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874).
Der Rosmarinstrauch gilt in vielen Mythologien als Zauberpflanze, die gegen böse Geister einsetzbar ist. Im „schweren Traum“ des Ichs übernimmt Rosmarin aber die gegenteilige Funktion – es kündet von der Ankunft des Todes. Die Zeichen von Verblühen und Verfall sind nicht zu übersehen. Offen bleibt jedoch, wen der Tod treffen wird: Das träumende Ich oder den im letzten Vers apostrophierten „Herzliebsten“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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