UNBEKANNTER DICHTER
Kinderpredigt
Ein Huhn und ein Hahn,
Die Predigt geht an,
Ein Kuh und ein Kalb,
Die Predigt ist halb,
Ein Katz und ein Maus,
Die Predigt ist aus,
Geht alle nach Haus
und haltet ein Schmaus.
Habt ihr was, so eßt es,
Habt ihr nichts, vergesst es,
Habt ihr ein Stückchen Brot,
So teilt es mit der Not,
Und habt ihr noch ein Brosämlein,
So streuet es den Vögelein.
18. Jahrhundert
Die Philologie hat der von den Romantikern Achim von Arnim und Clemens Brentano zusammengestellten Lieder-Sammlung Des Knaben Wunderhorn (1806–1808) immer wieder ein textkritisches Misstrauen entgegengebracht. Tatsächlich verfuhren die Herausgeber recht freizügig mit den Texten, die sie den Poesie-Sammlungen ihres Zeitgenossen Johann Gottfried Herder (1744–1803), des englischen Dichters Thomas Percy (1729–1811) und rund 140 weiteren Quellen entnommen hatten. Die von Arnim und Brentano selbst verfassten Texte wurden oft mit dem Zusatz „mündlich“ getarnt.
Die „Kinderpredigt“ hält sich mit frommen Bekenntnissen nicht lange auf. Der Text kokettiert mit den Abzählreimen aus Kinderspielen und präsentiert sich als listige Gegenrede zu den tradierten Gebetsformeln. Es sind die materiellen Probleme, die alltäglichen Sorgen, wie der Hunger zu stillen sei, die in diesen Versen aus dem 18. Jahrhundert im Vordergrund stehen. Alles lebt von der Hoffnung, dass die Predigt bald vorbei sein möge, um sich endlich drängenderen Problemen zuwenden zu können.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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