UNBEKANNTER DICHTER
Kinderreim
Ich möcht für tausend Taler nicht,
daß mir der Kopf ab wär,
da lief ich mit dem Rumpf herum
und wüßt nicht, wo ich wär.
Die Leut schrien all und blieben stehn:
Ei guck mal den! Ei guck mal den!
18. Jahrhundert
Kinderlieder haben oft – entgegen den aufgeklärten pädagogischen Idealen – etwas Unbarmherziges und Grausames. Die bekanntesten Beispiele sind in der dritten Abteilung der Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn enthalten, die Clemens Brentano (1778–1842) im Sommer 1808 zum Abschluss seines mit Achim von Arnim (1781–1831) konzipierten romantischen Volkslied-Projekts redigierte. Hier findet man nur wenig trostreiche Verse, statt dessen zahlreiche kleine Lieder und Poeme, in die sich die Aussicht auf ein Verhängnis eingeschrieben hat.
Diese heiter-sarkastischen Visionen spielen mit dem Phantasma der eigenen Enthauptung. Die Tendenz solcher Kinderlieder, die schlimmstmögliche Wendung der Geschichte in sich aufzunehmen, hat Brentano bei der Redigierung seiner Liedersammlung durch Texteingriffe noch weiter verschärft.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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