UNBEKANNTER DICHTER
Lied des abgesetzten Sultan Selim im Alten Serail,
nachdem er sich der Kunst gewidmet
Der Guguck ist ein braver Mann,
Der sieben Weiber brauchen kann;
Die erste kehrt die Stube aus,
Die zweite wirft den Unflat ’naus;
Die dritte nimmt den Flederwisch,
und kehrt des Guckuck seinen Tisch;
Die vierte bringt ihm Brot und Wein,
Die fünfte schenkt im fleißig ein;
Die sechste macht sein Bettlein warm,
Die siebente schläft in seinem Arm
vor 1800
Der Kuckuck ist nicht nur ein viel besungener Vogel in Volksliedern, sondern auch ein Held der Polygamie. In der von Clemens Brentano (1778–1842) und Achim von Arnim (1781–1831) redigierten Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn sind allein sechs Lieder dem promisken Flugtier gewidmet. Um seinen Hedonismus würdigen zu können, übersetzt das Kinderlied vom „Guguck“ die Vergnügungs-Sucht des Vogels in eine orientalische Szenerie.
Wenn es um erotische Hofhaltung geht, kommt in literarischen Kontexten immer wieder die magische Zahl sieben ins Spiel. So ersinnt auch der aus seinem Amt vertriebene und zum Künstler mutierte Sultan sieben Gespielinnen, die dem „Guguck“ zu Diensten sind. Dass „die Weiber“ hier ausschließlich als haushälterische und erotische Dienstleister gesehen werden, ist ein Topos der „Blaubart“-Dichtung und anderer literarischer Phantasien der Frauen-Eroberung.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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