Unbekannter Autor Gedicht „Rätsel“

UNBEKANNTER DICHTER

Rätsel

Flog Vogel federlos,
saß auf Baum blattlos,
kam Frau fußlos,
fing ihn handlos,
briet ihn feuerlos,
fraß ihn mundlos.

10. Jahrhundert

 

Konnotation

Eins der ältesten Worträtsel der deutschen Literaturgeschichte stammt ursprünglich aus einer lateinischen Textsammlung vom Anfang des 10. Jahrhunderts aus dem Kloster Reichenau. Im Gefolge des erwachenden deutschen Nationalbewussteins versuchte man im 19. Jahrhundert, den Text ins Althochdeutsche zu übertragen, um der deutschen Nationalliteratur ein „altdeutsches“ Rätsel zu verschaffen.
So ist durch Übersetzung ein wundersames Rätsel und zugleich ein Stück traditioneller Stabreimdichtung („Stab“ meint den gleichen Wortanlaut) entstanden. Die jeweils vierhebigen Zeilen bilden sich durch Alliterationen („Flog Vogel federlos“), die hier aber nicht systematisch durchgespielt werden. Die Lösung des Rätsels führt weit weg von der Bildlichkeit des Textes. Denn es geht um die Begegnung der Sonne mit der Schneeflocke, die in der ersten Zeile als „federloser Vogel“ metaphorisiert wird.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00