UNBEKANNTER AUTOR
Schabernack
Heut nacht bin ich fischen gangen,
da ist mirs geraten:
Hab einen buckligen Schneider gfangen,
hab ihn lassen braten.
Wie er braten ist gewesen,
hab ich gschrien: Zum Essen!
Kommt ein verstohlner Spatz daher,
hat mir den Schneider gfressen.
18. Jahrhundert
Dem Kindervers sind neckische Grausamkeiten nicht fremd. Besonders dem Berufsstand der Schneider wird in so manchem Abzählreim übel zugesetzt. Was sich der Meister der boshaften Kindergeschichte, Wilhelm Busch (1832–1908), an bösen Streichen gegenüber dem „Schneider Böck“ ausgedacht hat, wird bereits in vielen Kinderversen und Scherzgedichten des 18. Jahrhunderts vorweg genommen.
In Heinrich Hoffmanns mit Brutalitäten nicht geizendem Struwwelpeter (1845) ist der Schneider selbst eine sadistische Figur, die einem daumenlutschenden Jungen kurzerhand den Finger abschneidet. Vielleicht gibt es im Kindervers deshalb so viele Rachephantasien, die sich auf diesen Berufsstand richten – vielleicht auch, weil die Schneiderei seit dem Mittelalter häufig von Juden ausgeübt wurde? Der Schneider des „Schabernacks“ erleidet ein besonders übles Schicksal. Zuerst wird seine körperliche Anomalie denunziert, danach wird er in der Phantasie des unbekannten Dichters zum kannibalistischen Mahl vorbereitet und schließlich zum Fraß eines Vogels.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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