UNBEKANNTER DICHTER
Sehnsucht
Schwer, langweilig ist mir mein Zeit,
Seit ich mich täte scheiden,
Von dir mein Schatz und höchste Freud,
Ich merk, daß ich muß leiden,
Ach weh der Frist, zu lang sie ist,
Wird mir zu lang in Schmerzen,
Daß ich oft klag,
Es scheint kein Tag,
Des wird gedacht im Herzen
18. Jahrhundert
aus: Des Knaben Wunderhorn
Des Knaben Wunderhorn eine von Clemens Brentano (1778–1842) und Achim von Arnim (1781–1831) zwischen 1806 und 1808 in drei Bänden veröffentlichte Volksliedsammlung, die Liebes-, Soldaten-, Wander-, Trink- und Kinderlieder vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert enthielt, gilt heute als die bedeutendste Liedersammlung der deutschen Romantik. Eine tiefe Sehnsucht nach nationaler Erneuerung verband die Herausgeber, weshalb Goethe (1749–1832) sich befleißigt fühlte, sogleich vor einem „allzu verengenden Blickwinkel“ zu warnen, ohne freilich damit den Wert der Sammlung selbst in Abrede stellen zu wollen.
Die Sehnsucht unseres unbekannten Dichters ist keine politische, sondern wird gespeist von dessen rein subjektiven Leiden: dem eines Mannes, der beklagt, von seiner Liebsten verlassen worden zu sein. Der Verfasser dieses munteren kleinen Klagelieds könnte eine Art Gelegenheitsdichter gewesen sein, der Trost darin suchte, seinen Kummer in Verse zu bannen. Es ist die große Leistung Brentanos und von Arnims, Kunstpoesie gleichrangig neben Volkspoesie gestellt zu haben.
Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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