UNBEKANNTER DICHTER
Hans, mein Sohn, was machst du da?
Hans, mein Sohn, was machst du da?
Vater, ich studiere.
Hans, mein Sohn, das kannst du nicht.
Vater, ich probiere.
Hans, mein Sohn, du ärgerst mich.
Vater, das ist Mode.
Hans, mein Sohn, ich schlage dich.
Aber nicht zu Tode!
19. Jahrhundert
Selbst in sprachspielerisch daherkommenden Abzähl- und Kinderreimen können sich Abgründe auftun. Die brachialen Konzepte und Methoden einer schwarzen Pädagogik sind selten so lapidar dargestellt worden wie in den knappen Dialogen von Vater und Sohn, die in diesem Kinderreim aus dem 19. Jahrhundert durchgespielt werden.
Der Vater hat sich auf ein Konzept von Überwachen und Strafen festgelegt; eine selbstbestimmte und selbstbewusste Entwicklung des Sohnes ist darin nicht vorgesehen. Im Gegenteil: Der Bildungsanspruch des Sohnes wird ebenso unterdrückt wie das Ausprobieren von Haltungen und Lebensprogrammen. Das einzige Erziehungsmittel des Vaters ist die Gewalt. Der Sohn versucht sich mit ironischen Antworten zu wehren; ob er der Gewalt Einhalt gebieten kann, bleibt offen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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