Unbekannter Verfasser Gedicht „Auf dem Berge Sinai“

UNBEKANNTER VERFASSER

Auf dem Berge Sinai

Auf dem Berge Sinai
Wohnt der Schneider Kikriki.
Seine Frau, die Margarete,
Saß auf dem Balkon und nähte.
Fiel herab, fiel herab,
Und das linke Bein brach ab.
Kam der Doktor angerannt
Mit der Nadel in der Hand,
Näht es an, näht es an,
Daß sie wieder laufen kann.

19. Jahrhundert

 

Konnotation

So harmlos und possierlich, wie die fließenden Abzählreime vermuten lassen, ist dieser denkwürdige Kinderreim aus dem 19. Jahrhundert nicht. Das Gedicht vom „Schneider Kikriki“ und seiner verunfallten Frau Margarete hat ja schon einen ungewöhnlichen Schauplatz: den heiligen Berg Israels, auf dem Moses nach alttestamentarischer Vorstellung die Zehn Gebote empfing.
Es handelt sich um eine makabre Geschichte mit wundersamem Ausgang. Der explizit jüdische Kontext wird dabei in das Szenario einer Art Wunderheilung verschoben. In seinen zahllosen Varianten entfernt sich der Kinderreim immer mehr von seinem Ausgangspunkt, dem schrillen Vergleich von medizinischer Kunst und Schneider-Handwerk. In einer sächsischen Variante des Gedichts werden obszöne („knöpptr seine Hosen auf“) und antiklerikale Motive in den Text implantiert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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