UNBEKANNTER VERFASSER
Die Hand
Sieh, sieh du böses Kind!
Was man hier merklich findt,
Die Hand, die nicht verweßt,
Weil der, des sie gewest,
Ein ungerathnes Kind,
Drum bessre dich geschwind.
Den Vater schlug der Sohn,
Drum hat er dies zum Lohn,
Er schlug ihn mit der Hand,
Nun siehe seine Schand,
Die Hand wuchs aus der Erd,
Ein ew’ger Vorwurf währt.
1741
aus: Des Knaben Wunderhorn
In den „alten deutschen Liedern“, die Clemens Brentano und Achim Arnim 1805 zur ihrer populären Sammlung Des Knaben Wunderhorn zusammentrugen, befanden sich auch Verse, die weniger der kultivierten Erbauung als vielmehr der pädagogischen Abschreckung dienten. Ein solches grausames Kinderlied fanden die Herausgeber in einem Legendenbuch aus dem Jahr 1741.
Die Geschichte von der unverwesten Hand geht auf eine Legende des frühen 18. Jahrhunderts zurück, der zufolge ein junges Mädchen in Bödefeld (Sauerland) ein Tabu verletzte: Es schlug „in bösem Zorn“ seine Mutter. Bald darauf, so die Fama, sei das Mädchen gestorben und beerdigt worden. An den folgenden Tagen sei die Hand der Täterin immer wieder aus dem Grabe herausgewachsen. Daraus zog die Kirche die moralische Conclusio, dass Gott hier eine dringende Warnung an alle Kinder gerichtet habe, sich nicht an den Eltern zu vergreifen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
Schreibe einen Kommentar