UNBEKANNTER VERFASSER
Du bist mein, ich bin dein
Du bist mîn, ich bin dîn,
des solt du gewis sîn.
du bist beslozzen
in mînem herzen,
verlorn ist daz sluzzelîn –
du muost ouch immer dar inne sîn.
Du bist mein, ich bin dein,
dessen sollst du sicher sein.
Du bist verschlossen
in meinem Herzen,
verloren ist der Schlüssel fein –
du mußt für immer drinnen sein.
12. Jahrhundert
Mit diesem innigen Poem von vollkommener Zartheit beginnt Mitte des 12. Jahrhunderts die Geschichte der deutschen Liebespoesie. Das anrührende Gedicht findet man am Ende einer Briefsammlung des Klosters Tegernsee, einer Sammlung lateinischer Briefe, die möglicherweise von einer Nonne stammen.
Die Mediävistik ist mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei den Briefen nur um Fiktionen handelt, um Musterstücke, die der Erlernung der lateinischen Stillehre und Rhetorik dienen. Sind also die sechs anmutigen Verse des Liebespoems ebenso nur Exempel des rhetorischen Regelwerks? Das ist nur schwer zu entscheiden. Wichtiger ist, dass hier die Liebe als Passion mit dem einprägsamen Bild vom Herzensschlüssel wunderbar beschrieben ist. Die sechs Verse fügen sich jedenfalls in ihrer zarten Schlichtheit zu einem anrührenden Liebesbekenntnis aus weiblicher Sicht.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
Schreibe einen Kommentar