UNBEKANNTER VERFASSER
Dunkel wars, der Mond schien helle
Dunkel wars, der Mond schien helle,
Schnee lag auf der grünen Flur,
als ein Wagen blitzesschnelle
langsam um die Ecke fuhr.
Drinnen saßen stehend Leute,
schweigend ins Gespräch vertieft,
als ein totgeschoßner Hase
auf der Sandbank Schlittschuh lief.
Und ein blondgelockter Jüngling
mit kohlrabenschwarzem Haar
saß auf einer blauen Kiste,
die rot angestrichen war.
19. Jahrhundert
Dieses berühmte Spottgedicht voll lustiger Paradoxien und Oxymora ist eins der schönsten Sprachspiele der deutschen Literaturgeschichte und hat viele Generationen von Lesern und Nachahmern zum Auswendiglernen angeregt. Es existiert in unzähligen Varianten und ist historisch der Scherz- und Unsinnsdichtung des 19. Jahrhunderts zuzurechnen.
Man hat zu allen Zeiten über den Verfasser spekuliert, glaubte an die Urheberschaft Goethes oder Lewis Carrolls, vermutlich stammt es aber aus dem sächsischen Volksmund, von wo aus es um 1850 seinen Siegeszug durch die deutsche Öffentlichkeit antrat. Eine der neueren Varianten des Gedichts endet: „Dieses Gedicht schrieb Wolfgang Goethe / abends in der Morgenröte / während er auf’m Nachttopf saß / und seine Morgenzeitung las.“ Wer indes diese beiden Schluss-Verse für paradox hält, kennt die Gewohnheiten der Zeitungsleser nicht.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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