UNBEKANNTER VERFASSER
Es sitzt ein Engelein an der Wand
Es sitzt ein Engelein an der Wand,
hat ein Gackei in der Hand,
möcht es gerne essen,
hat es aber kein Messer.
Fällt ein Messer vom Himmel rab
und schneid dem Engel es Köpfle ab.
Die Magd springt zum Balbierer,
dort ist kein Mensch zuhaus,
die Katz fegt die Stuben aus,
die Maus schaut zum Fenster raus.
Und der Gicker auf dem Dach
hat sich schier zutod gelacht.
18. Jahrhundert
Aufgelesen von Hans Magnus Enzensberger
„Der Kinderreim“, hat Hans Magnus Enzensberger einmal gesagt, „gehört zum poetischen Existenzminimum.“ Er führt ein zähes und unzerstörbares Leben, mit seinem anarchischen Humor und seinen einprägsamen Knittelversen hat er viele Leser-Generationen begeistert. Die erste Sammlung mit Volks- und Kinderreimen legten 1806 die Romantiker Achim von Arnim und Clemens Brentano unter dem Titel Des Knaben Wunderhorn vor.
Enzensberger selbst hat 1961 mit der Anthologie Allerleirauh einen eigenen Fundus mit alten und neuen Kinderreimen zusammengestellt, in dem auch die böse Geschichte vom unfrommen Engelein enthalten ist. Hier entfesselt der Reim eine gewaltige Eigendynamik, die Verse bilden ein kleines Pandämonium der Grausamkeiten: Menschen, Tiere und Dinge geraten in einen chaotischen Wirbel, am Ende leibt nur das grimmige Gelächter des „Gickers“, ein lautmalerisches Synonym für den „Hahn“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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