UNBEKANNTER VERFASSER
Verschneiter Weg
Es ist ein Schnee gefallen
Und ist es doch nit Zeit,
Man wirft mich mit den Ballen,
Der Weg ist mir verschneit.
Mein Haus hat keinen Giebel,
Es ist mir worden alt,
Zerbrochen sind die Riegel,
Mein Stüblein ist mir kalt.
Ach Lieb, laß dich’s erbarmen
Daß ich so elend bin,
Und schleuß mich in dein Arme!
So fährt der Winter hin.
1467
Als elender Bettelmann muss der Mensch hier sein zerfallendes Haus verlassen und sich mühsam seinen Weg durch eine verschneite Landschaft ins Unbekannte bahnen. Auf diesem beschwerlichen Weg wird der Gehende mit „Ballen“ beworfen, die größere Schwierigkeiten bereiten als Schneebälle im ausgelassenen Kinderspiel.
Das Ich hat mit Hindernissen und Mühseligkeiten zu kämpfen, die, bedenkt man die Entstehungszeit des Gedichts, wohl mit den Verheerungen mittelalterlicher Kriege zu tun haben. Denn das kleine Poem stammt aus dem Kontext der anonymen deutschen Volksdichtungen des 15. Jahrhunderts und ist nach einer Handschrift von 1467 in viele Anthologien aufgenommen worden. Das Gedicht ist also in einem historischen Augenblick entstanden, da die religiösen und politischen Fundamente der damaligen Weltordnung zu wanken beginnen. Es bleibt offen, ob es sich bei der „Lieb“, die in der letzten Strophe um „Erbarmen“ angerufen wird, um eine göttliche Instanz oder um die innerweltliche Geliebte handelt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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