UNBEKANNTER MANN
Vom kleinen Mann
Es war einmal ein kleiner Mann
und eine schöne große Frau.
Die Frau, die wollt zum Tanze gehn,
der kleine Mann wollt auch mitgehn.
Ach kleiner Mann, bleib du zu Haus,
du wäschst mir Schüsseln und Teller aus.
Und als die Frau vom Tanze kam,
da saß der Mann beim Ofen und spann,
Und leckte seinen Teller ab,
und leckte seinen Teller ab.
Da kriegt die Frau den großen Stock
und schlug den Mann wohl übern Kopp.
Der Mann, der kroch ins Butterfaß,
Und guckt er raus, so kriegt er was.
19. Jahrhundert
Im fränkischen Volkslied des 19. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Varianten der Geschichte vom „kleinen Mann“ und der „schönen großen Frau“, die dem bürgerlichen Ehemann als Pantoffelhelden ein eher unrühmliches Denkmal setzen. Der kleine Mann und die vergnügungssüchtige Emanze – das ist eine Szene, an der sich schon die Volkspoesie ergötzt.
Der Mann ist zur erbarmungswürdigen Figur geschrumpft, die nicht nur zum Rollentausch gezwungen wird, sondern auch jederzeit Schläge der Gattin zu erdulden hat. Lebensgenuss ist in diesem Fall der Frau vorbehalten. Der subversive Humor der Volkspoesie und des Kinderreims vermag so mitunter auch die traditionellen Geschlechterverhältnisse auf den Kopf zu stellen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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