Unbekannter Verfasser Gedicht „Wiegenliedchen“

UNBEKANNTER VERFASSER

Wiegenliedchen

Da droben auf dem Berge da wehet der Wind,
Da sitzet Maria und wieget ihr Kind,

Sie wiegt es mit ihrer schloweissen Hand
Dazu braucht sie kein Wiegenband.

„Ach Josef, liebster Josef mein,
Ach hilf mir wiegen mein Kindelein!“

„Wie soll ich dir helfen dein Kindelein wiegn,
Ich kann ja vor Kälten die Finger kaum biegn.“

Auf dem Berge da wehet der Wind
Da wiegt Maria ihr Kind

18. Jahrhundert

 

Konnotation

Das Bild der wiegenden Gottesmutter „droben auf dem Berge“ gehört sicherlich zu den bekanntesten Wiegenliedern mit biblischem Hintergrund. In der romantischen Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1805/1808) haben Achim von Arnim und Clemens Brentano eine Version dieses Wiegenliedes dokumentiert, die von der Gottesmutter und ihrem Kind handelt. In seiner epochalen Textsammlung Ewiger Vorrat deutscher Poesie (1926) präsentiert dagegen Rudolf Borchardt den Text eines schlesischen Volksliedes aus dem 18. Jahrhundert, das die Szene erweitert.
Die Momente der Beruhigung und des Behütetseins, die von einem Wiegenlied in der Regel ausgehen, weichen hier einem Bild der absoluten Verlassenheit von Maria und Josef in finsterer Kälte. Das Begütigende dieses „Wiegenliedchens“, das man in den meisten Sammlungen mit Weihnachtsliedern findet (mit der Variante: „Und schützen dem schlummernden Kindlein die Ruh, Sie bringen ihm Blumen vom Paradies“) ist hier ins Gegenteil verkehrt. Die heilige Familie wird gezeigt in äußerster Schutzlosigkeit.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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