URSULA KRECHEL
Falb
Es ist ein harter Schnee gefallen
über Mützen und Kopfschmerz in der Nacht.
Es ist eine Stille auf den Boden gefallen
Stein beißt den Schnee, Salz taut den Weg
Blaumänner kauen auf Stullen, schaufeln
Schwarzarbeit. Du bückst dich, bückst dich
was taut, wird grau, der Schnee wird lau
Schneeschaufeln schaben dir den Rücken.
Ein dickes dummes Kind rutscht aus.
nach 1980
aus: Ursula Krechel: Ungezürnt. Gedichte, Lichter, Lesezeichen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1997
Ist es das Tableau eines expressionistischen Wintergedichts, das die dargestellten Motive ironisch miteinander verknüpft? Oder haben wir es aber mit einem experimentell ambitionierten Poem zu tun, das vor allem die virtuose Einbettung des Zischlauts „sch“ in verschiedene Satztypen zelebriert? Die Schlusszeile jedenfalls – „Ein dickes dummes Kind rutscht aus“ – könnte auch aus einem Gedicht des Frühexpressionisten Alfred Lichtenstein (1887–1914) stammen, zu dessen Werk die Schriftstellerin Ursula Krechel (geb. 1947) einige Interpretationen vorgelegt hat.
In ihrem nach 1980 entstandenen Gedicht vollzieht Ursula Krechel einen Bruch mit den rhythmischen und metaphorischen Standards eines klassisch-romantischen Wintergedichts. Die Melodie eines Volkslieds („Es ist ein Schnee gefallen“) wird zwar aufgerufen, aber zugleich durch Paradoxien („Es ist eine Stille auf den Boden gefallen“) konterkariert. Das Weiche, Begütigende der klassischen Töne wird ironisch-spielerisch demontiert.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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