URSULA KRECHEL
Kalten Blutes
Jede Nacht, in der meine Liebe schläft
still die angekrauchten Knie wie ein Kind
geballte Fäuste unter dem Kissen
jede Nacht stehe ich auf
schleiche durch die Flure
auf Sammetpfoten schreib ich
kalten Blutes die Wärme herbei
jede Nacht, in der meine Liebe schläft
still die angekrauchten Knie wie ein Kind
geballte Fäuste unter dem Kissen
jede Nacht stehe ich auf.
1980er Jahre
aus: Ursula Krechel: Ungezürnt. Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1997
„Alles sollte hell und licht und durchsichtig sein bis in die Träume“, hat die 1947 geborene Ursula Krechel einmal über die Bauform ihrer frühen Gedichte geschrieben. Selten wagt ein poetischer Text der Autorin aber so viel erzählerische Direktheit wie diese in den 1980er Jahren entstandene Miniatur über die fluktuierenden Grenzen zwischen Liebes-Traum und realer Liebes-Erfahrung.
Wer schläft hier den Schlaf der Liebe? Ein Geliebter, über dessen Anwesenheit sich das schlaflose Ich bei seinen unruhigen Flur-Gängen Gewissheit verschaffen muss? Oder die Liebes-Phantasie selbst, die hier allegorisiert wird als schlafendes Kind, das mit „angekrauchten Knien“ daliegt? Die seltene Vokabel „angekraucht“, semantisch wohl anzusiedeln zwischen „angegratzt“ und „krauchen/kriechen“, signalisiert eine Verletzbarkeit. Die ersehnte emotionale Wärme wird von dem Ich jedenfalls vermisst. Denn es bedarf „kalten Blutes“, um sie „herbei zu schreiben“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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