URSULA KRECHEL
Rede, Herz
So kalt war das Herz, daß es
fürchtete um sich selbst
absoff die Rede, wollte schon
kaltschnäuzig genannt werden
schmiegte sich wohlig an Fliesen
hauste wie glückliche Maden
unter Körben mit Sauerkirschen.
Selbstlos in Fremdes gebohrt
kopfüber satt, so pochte das Herz
sprachlos, was auch geschah
sehr leise ging das Gesicht entzwei
die Rede fraß sich fest
schabte den Grund, grundlos.
um 1980
aus: Ursula Krechel: Vom Feuer lernen, Luchterhand Literaturverlag, Darmstadt 1935
Bei ihrer Suche nach poetischer Selbstvergewisserung ging es der 1947 in Trier geborenen Ursula Krechel zunächst um den Entwurf einer weiblichen Genealogie, illustriert mit einem feministischen Befreiungstraum. Der einfache erzählende Gestus und die autobiographische Verheißung ihrer frühen Gedichte weichen in späteren Werken einer sprachreflektierenden Poetik.
Der Titel des Gedichts „Rede, Herz“, das Anfang der 1980er Jahre entstanden ist, lässt sentimentalische Bekenntnisse erwarten. Aber „Herz“ wie „Rede“ sind hier in Kälte und Furcht gefangen, bleiben „sprachlos“. Es kommt nicht zur Entäußerung, sondern zur Erstarrung, schließlich zum Akt der Destruktion. „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“, soll Jesus Christus dereinst die Pharisäer belehrt haben. In Ursula Krechels Gedicht geht die Rede die umgekehrte Richtung, in ein feindseliges Verstummen – gezwungen durch das „kalte Herz“ und die „grundlos“ sich vorwärts fressende „Rede“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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