VOLKER BRAUN
Als er wieder sehen konnte
Ich sehe wieder klar, und beide Augen lügen
Mir eine schöne Welt. Ich laß mich gern betrügen
Und blicke gerne durch in Kluft und Gruft hinein.
Wenn mich auch sonst nichts freut, ich lob den Augenschein.
nach 2000
aus: Volker Braun: Auf die schönen Possen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2004
Den dialektisch denkenden und zugleich geschichtsphilosophisch vergrübelten Dichter Volker Braun (geb. 1939) hat sein jüngerer Kollege Uwe Kolbe einmal als „aufrichtigen marxistischen Studenten auf Lebenszeit“ charakterisiert. Tatsächlich hat Braun die sozialistische Utopie als Bezugspunkt seiner Lyrik nie aus den Augen verloren; auch nach dem politischen Umbruch 1989 hat er die Kämpfe des ideologischen Zeitalters in sarkastischen und ironischen Versen vergegenwärtigt.
Brauns Vierzeiler ist ein Meisterstück dialektischer Pointierung. Die wiedergewonnene Augenschärfe und Klarheit werden als Voraussetzung von Lüge und Selbstverblendung beschrieben. Der „Augenschein“, der sich die Idyllen der neo-kapitalistischen Wirklichkeit als „schöne Welt“ zurechtbuchstabiert, führt auf direktem Weg in Lüge und (Selbst)Betrug. Brauns Miniatur lebt von ihren schroff gefügten Paradoxien. Die „schöne Welt“ erweist sich als abgründiges, todverfallenes Terrain, die sinnliche Evidenz des „Augenscheins“ ändert nichts am heillosen Daseinsgefühl des Ich.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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