Volker Brauns Gedicht „[DIE UTOPIE]“

VOLKER BRAUN

[DIE UTOPIE]

Sie hat nichts Besseres zu tun als nichts
Beschäftigt mit Überleben, von der Hand in den Mund
Ein Gespenst aus der Zukunft arbeitslos
Singend in Soho! Gebettet auf Rosen! Ein Tagtraum
Vom aufrechten Gang an der Nabelschnur
Des Büchsenbiers. DER FORTSCHRITT WOHNT
IN DER KATASTROPHE. So ist doch Hoffnung
Für den Aussatz. Ein Tanz am Vormittag
Mit der Volksseele, die Kaufhallen angesteckt
Die Verworfene, nichts hat sie zu tun als Besseres.

nach 2000

aus: Volker Braun: Auf die schönen Possen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2004

 

Konnotation

Die Hoffnung stirbt zuletzt – so auch bei dem 1939 in Dresden geborenen Volker Braun, dessen Protagonisten vielfach „mit Überleben, von der Hand in den Mund“ beschäftigt sind. Ihn interessieren nicht die Privilegierten, sondern die Zu-Kurz-Gekommenen, die aus Enttäuschung über die gesellschaftlichen Zustände „an der Nabelschnur / des Büchsenbiers“ hängen. Sollte die Hoffnung für sie nur noch darin bestehen, auf die Katastrophe zu warten? Für den Autor dieser Zeilen wäre das ein Tanz auf dem brodelnden Vulkan der Volksseele, die unberechenbar bleibt, braune Irrwege inbegriffen.
Volker Brauns Utopie besteht in der Hoffnung, die Verworfenen möchten doch Besseres zu tun haben, als das von ihm in dem Gedicht Beschriebene. Doch bleibt der Autor, der einmal von einem demokratischen Sozialismus träumte und nach der Wende die „Kolonisation der DDR durch den Westen“ betrauerte, ein Dialektiker durch und durch. Denn Utopie kann immer beides sein: ideologisches Zerrbild und Lichtstreif am Horizont.

Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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