W.G. Sebalds Gedicht „Wintergedicht“

W.G. SEBALD

Wintergedicht

Das Tal hallt wider
Vom Klang der Sterne
Vom Ausmaß der Stille
Über dem Schnee und den Wäldern.
Das Vieh ist im Stall.
Gott ist im Himmel.
Das Jesuskind in Flandern.
Wer glaubt wird selig.
Die heiligen drei König
Gehen auf der Erde.

1964/1965

aus: W.G. Sebald: Über das Land und das Wasser. Gedichte 1964–2001. Hrsg. von Sven Meyer. Hanser Literaturverlag, München 2008

 

Konnotation

Die Archäologie der Erinnerung, die der grandiose Erzähler W.G. Sebald (1944–2001) in seinen Romanen als Gewebe aus historischen Tatsachen, fantastischen Déjà-Vus und Albträumen aufspannt, findet man zum Teil in seinen frühen Gedichten vorgezeichnet. In einer lakonischen Reihung fügt Sebald in seinem frühen Gedicht traditionelle Winterbilder mit bekannten Weihnachts-Motiven und Gebetsformeln zusammen. Dabei soll aber kein harmonisches Bild von der Ankunft des Erlösers entstehen, sondern eine starre, kalte Szenerie unverbundener Einzelheiten.
Was in der biblischen Geschichte der heiligen Familie in inniger Verbundenheit gezeigt wird – die Präsenz der Tiere im Stall, in dem das Jesuskind geboren wird –, bleibt hier getrennt und verschiedenen Sphären zugeordnet. Das Religiöse und das Irdische finden nicht zusammen: „Das Vieh ist im Stall. / Gott ist im Himmel.“ Zudem wird die Weihnachtsgeschichte in einen anderen Kontext versetzt, die einer Erzählung des flämischen Schriftstellers und Mystikers Felix Timmermans (1886–1947) entnommen ist („Das Jesuskind in Flandern“).

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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