WALTHER VON DER VOGELWEIDE
Wacht auf!
Wacht auf! Es naht uns der Tag,
den mit Grund in Ängsten erwartet
ein jeder, ob Christ, Jude oder Heide.
Wir haben viel der Zeichen gesehen
an denen wir sein Kommen deutlich erkennen,
wie uns die Schrift in ihrem Wahrheitsgehalt belehrt hat:
Die Sonne hat sich verfinstert,
Treulosigkeit ihren Samen ausgestreut
überall an den Wegen:
der Vater findet Treulosigkeit bei dem Sohn,
der Bruder belügt den Bruder,
und Betrug treibt der geistliche Stand,
der uns doch Weg und Steg zum Himmel sein sollte:
Gewalttätigkeit schießt auf – Recht vor Gericht welkt dahin.
Auf denn! Wir haben schon zu lang gesäumt!
nach 1198
Walther von der Vogelweide (ca. 1170–1230), der bekannteste deutschsprachige Dichter des Mittelalters, war ein Berufssänger ohne festen Wohnsitz, der von Fürstenhof zu Fürstenhof zog und auf die Gunst der Mächtigen angewiesen blieb. Dem „Minnesang“, Liebespoemen auf die jeweils unerreichbare „frouwe“, hat er zu neuer Bedeutung verholfen. Auch mit seinen politischen „Sprüchen“ gegen Kaiser und Papst hat er Literaturgeschichte geschrieben.
Die lyrische Endzeitvision Walthers ist vermutlich nach 1198 entstanden, nachdem Walther am Stauferhof König Philipps von Schwaben Aufnahme gefunden hatte, dessen Krönung und Legitimität er im staufisch-welfischen Thronstreit in mehreren sich motivisch an den eschatologischen Prophezeiungen des Markus-Evangeliums. Ein unmittelbarer Anlass war vielleicht auch die Sonnenfinsternis vom 27. November 1201 und die mit ihr verbundenen Massen-Ängste.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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