WALTHER VON DER VOGELWEIDE
Wer gab dir, liebe, die gewalt
Wer gab dir, liebe, die gewalt,
wie kannst du so urgewaltig sein?
machst untertänig jung und alt;
keinem mensch fällt dazu hilfe ein.
jetzt lob ich gott, da ich erkannt eh,
dass ich gezwungen in deine bande,
wo herrlicher dienst geboten ist.
da geh ich niemals wieder – bitte, königin,
nimm an du meine lebensfrist.
(übersetzt von Thomas Kling)
um 1200
Was ist das für eine affektive Urgewalt, die alles mit sich fortreißt und alle Lebensregeln des Menschen außer Kraft zu setzen droht? Es ist die „Minne“, die am ausdauerndsten besungen worden ist von einem der ersten Berufsdichter des Mittelalters, von Walther von der Vogelweide (ca. 1170–1230) einem Mann ohne festen Wohnsitz, der wie alle Künstler dieser Zeit auf die Gönnerschaft eines herrschaftlichen Publikums angewiesen war.
Die „Minne“ umfasst freilich mehr als nur den Begriff der „Liebe“, wie er in der Übersetzung Thomas Klings auftaucht. Die „Minne“ bzw. der „Minnedienst“ ist im Verständnis Walthers eine frühe kulturelle Form der Triebregulierung. Denn die „Minne“ bändigt und absorbiert nicht nur die erotischen Affekte, ihre sublimierende Wirkung verwandelt das Begehren in eine innerseelische Läuterung. Der Minnedienst des Sängers meint die Unterwerfung unter die „frouwe“, eine poetisches Dasein des Sehnens und Hoffens, dem die Erfüllung versagt bleibt – denn die Erfüllung wäre das Ende der Sehnsucht.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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