Wilhelm Lehmanns Gedicht „An meinen ältesten Sohn“

WILHELM LEHMANN

An meinen ältesten Sohn

Die Winterlinde, die Sommerlinde
Blühen getrennt –
In der Zwischenzeit, mein lieber Sohn,
Geht der Gesang zu End.

Die Schwalbenwurz zieht den Kalk aus dem Hügel
Mit weißen Zehn,
Ich kann es unter der Erde
Im Dunkeln sehn.

Ein Regen fleckt die grauen Steine –
Der letzte Ton
Fehlt dem Goldammermännchen zum Liede.
Sing du ihn, Sohn.

1924

aus: Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke in acht Bänden, Hrsg. von Agathe Weigel-Lehmann u.a., Bd. 1: Sämtliche Gedichte, Hrsg. von Hans Dieter Schäfer. Klett-Cotta, Stuttgart 1982

 

Konnotation

Kein bedeutender deutscher Dichter des 20. Jahrhunderts hat eine so wechselvolle Rezeptionsgeschichte erlebt wie der Naturlyriker Wilhelm Lehmann (1882–1968). Im Dritten Reich hatte sich Lehmann abseits gehalten, nach 1945 erlangte er mit seiner Poetik der Naturmagie große öffentliche Anerkennung. Lehmann nimmt die „Naturfrömmigkeit“ Goethes wieder auf in überaus detaillierten, liebevollen, oft gelehrten Beschreibungen einzelner Naturphänomene. Nach 1968 wurde ihm das zum Verhängnis.
Lehmanns Werk geriet im Zuge der Politisierung der Literatur unter Ideologieverdacht. Sein Konzept, die „krude, sogenannte Wirklichkeit aufzulösen“ und zu einer „zweiten eigentlichen Wirklichkeit“ hinzuführen, galt als reaktionär. In einer 1924 entstandenen Natur-Beschwörung, in der alles im Bann der pflanzlichen und kreatürlichen Phänomene steht, plädiert Lehmann in direkter Ansprache an seinen Sohn für das genaue Betrachten des vegetativen Daseins. Die Sprache der Natur und die Sprache der Dichtung – hier fallen sie noch einmal zusammen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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