WILHELM MÜLLER
Einsamkeit
Wie eine trübe Wolke
Durch heitre Lüfte geht,
Wenn in der Tanne Wipfel
Ein mattes Lüftchen weht:
So zieh ich meine Straße
Dahin mit trägem Fuß,
Durch helles, frohes Leben,
Einsam und ohne Gruß.
Ach, daß die Luft so ruhig!
Ach, daß die Welt so licht!
Als noch die Stürme tobten,
war ich so elend nicht.
1823/1824
Gedichte und Lieder, die vom Glück des Unterwegsseins oder von der Sehnsucht des Wanderns handeln, bilden eine elegische Grundmelodie der Romantik. Der grandiose Liederzyklus „Winterreise“ des polyglotten Philologen und von Griechenland begeisterten Dichters Wilhelm Müller (1794–1827) zeigt einen Wanderer in tiefer Trauer und im existenziellen Stillstand.
Es ist ein nicht aufhebbares Elend, in das sich Müllers Wanderer verstrickt sieht. Das Gedicht „Einsamkeit“, das wie alle Teile des aus 24 Liedern bestehenden Zyklus 1823/1824 entstanden ist, bildet den Abschluss des ersten Teils der „Winterreise“. Nach dem von Zuversicht bestimmten Aufbruch versinkt das Ich in Niedergeschlagenheit, die sich bis zum Ende des Zyklus in absolute Seelenfinsternis verwandelt. Dass Müller die genialen „Winterreise“ Vertonungen seines Zeitgenossen Franz Schubert nie kennengelernt hat, erscheint als tragische Pointe des romantischen Geistes.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
Schreibe einen Kommentar