WOLF WONDRATSCHEK
Weihnacht
Weihnacht –
Weltkrieg der Wünsche,
Stichtag für Selbstmörder,
größte Einsamkeit.
Wer lag wo im Stroh?
Wie lange ist das her?
Ach so, so lange schon?
Na dann, kein Wunder,
daß keines geschieht.
Gute Nacht,
stille und heilige.
Ich bin vom Wünschen so müde
und müde vom Anschaun brennender
Kerzen, vom Warten
auf Schnee.
Ich könnte heulen –
und muß nur lachen.
Was soll man denn sonst
an Weihnachten machen?
1980
aus: Wolf Wondratschek: Gedichte / Lieder. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a.M.2003
„In seinen besten Momenten“, so konzedieren auch die Kritiker dieses Poeten, „gelingen Wondratschek Sprachbilder in so lapidarer Verdichtung, dass sie wie eine dauernde Reizung im Gehirn nisten“. Zum lyrischen Pop-Star avancierte der 1943 geborene Dichter in den 1970er Jahren, als er mit dem Nimbus des harten, coolen Rock-Poeten kokettierte. Er besang die „Einsamkeit der Männer“ und „die Hure Domenica“, trieb sich in seinen Reportagen an Boxringen und in Rotlichtvierteln herum – und versuchte sich am Mythos Weihnachten.
Das 1980 erstmals veröffentlichte Gedicht zielt auf eine gründliche Demontage aller mit dem christlichen Weihnachtsfest verbundenen Wunschbilder und Utopien. Diesen Tag disqualifiziert der Dichter als fatales Datum: Denn die „stille Nacht“ ist ihm „Stichtag für Selbstmörder“ und für eine Nacht der privaten Katastrophen. Mit einem ironischen Anklang an Rainer Maria Rilkes „Panther“-Gedicht lässt Wondratschek wenig Hoffnung auf eine Neubelebung der „heiligen Nacht“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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