WOLFDIETRICH SCHNURRE
Kassiber
Ich roch Hyänenbrunft in den Bars.
Ich traf in den Kneipen Schakale.
Ich hörte den Brüllaffenschrei auf den Rängen.
Geier sah ich, die Drähte zerrissen,
Skorpione, die sich füllten mit farbigem Gift.
Ich sah Leguane in den Anlagen wüten,
Heuschreckenschwärme ihr Blut
einem lüsternen Himmel aufdrängen;
doch ich sah keinen Menschen.
1965
aus: Wolfdietrich Schnurre: Kassiber, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1965
„Kassiber“ sind geheime Botschaften eines Gefangenen an seine Mithäftlinge. Dass der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre (1920–1989) einen 1965 erschienenen Gedichtband Kassiber genannt hat, ist charakteristisch für das fatalistische Weltverständnis dieses Autors aus der Generation der Kriegsteilnehmer: Das Dasein wird als unaufhebbare Gefangenschaft in einer von bösen Mächten beherrschten Wirklichkeit erlebt.
Zeitkritischer Ingrimm hat sich in diesem Gedicht pathetisch aufgeladen: Die Schauplätze des modernen Alltagslebens sind besetzt von gefräßigen, aggressiven oder todbringenden Tieren; die Menschen sind dagegen aus ihrer eigenen Lebenswelt verschwunden. Der Gestus aufklärerischer Belehrung bedient sich eines etwas aufdringlichen Symbolismus. Schnurre selbst betonte sein Recht auf lyrische Direktheit: „Weil nur das Gedicht mir die Möglichkeit gibt, meine Angst einzudämmen, mich von Bildern zu befreien, die mein Bewusstsein blockieren.“
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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