WOLFGANG BORCHERT
Der Vogel
Du bist vom Wind erlöste Ackerkrume,
du bist ein Kind von Fisch und Blume.
Aus allem aufgehoben,
bist du der Wunsch der Seele,
daß sie im tollsten Toben
sich nicht mehr quäle.
Du bist vom Stern geboren
in einer großen Nacht.
Pan hat sein Herz verloren
und dich daraus gemacht!
1945/46
aus: Wolfgang Borchert: Das Gesamtwerk, Rowohlt Verlag, Reinbek 1949ff.
Mit Wolfgang Borchert (1921–1947), dem literarischen Repräsentanten der Kriegsheimkehrer-Generation, hat die literarische Nachwelt so ihre Schwierigkeiten. Seine frühen Gedichte, gesammelt in Laterne, Nacht und Sterne (1946), gelten als epigonale Stücke, durchsetzt von steilem Pathos und leerer Rhetorik. Dass Borchert seine Begeisterung für Rilke und Hölderlin aber auch in ganz wunderbare Gedichte umzuwandeln vermag, zeigt ein Text wie „Der Vogel“.
Ein Gedicht über einen Vogel als kleine Schöpfungsgeschichte: Borchert hat sie als zauberhaftes Mirakel angelegt. Gewiss kann man auch diesem Text eine gewisse Neigung zur unkontrollierten Feierlichkeit nachsagen. Und die lyrischen Ingredienzien stammen aus dem Bilderrepertoire des Jugendstils. Am Ende taucht denn auch Pan auf, nach antiker Vorstellung der Gott der Hirten und des Waldes. Mag Borchert mitunter zu naiv ins Kosmische und in eine „große Nacht“ hineinblinzeln – sein Gedicht bleibt eine schöne Suggestion.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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