Wolfgang Hilbigs Gedicht „Gleichnis“

WOLFGANG HILBIG

Gleichnis

Es war eine Zeit, da sollte man meinen,
die Welt wollte untergehn vor Wind.
Wie ein Mörder fuhr er – schonend keinen –
in die Dörfer, wo Tiere und Menschen sind.

Und er raste lawinentoll und riß
fast des Menschen Kartenhäuser nieder
und schlug in die Bäume sein Höllengebiß
und grölte triumphierend seine blutigen Lieder.

Doch als er einige Tage gebrüllt,
wie es sich für einen Kerl wie ihn gebührte
hat er sich plötzlich in Schweigen gehüllt,
weil er sah, daß sein Toben die Menschen nicht rührte.

1964

aus: Wolfgang Hilbig: Werke. Bd. 1. Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2008

 

Konnotation

Einen „Surrealisten aus dem Kesselhaus“ hat man den Schriftsteller Wolfgang Hilbig (1941–2007) genannt und damit exakt bezeichnet, zwischen welchen Polen sich das Leben und Schreiben dieses zornigen „Arbeiterdichters“ aus dem sächsischen Meuselwitz abspielte. Als 1979 sein Lyrikband abwesenheit im Westen erschien, steckte man Hilbig in Untersuchungshaft und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe wegen „Devisenvergehens“. Auch nach seiner Übersiedlung in den Westen 1985 blieb er ein Unbehauster, ein Johann Ohneland, nur in seinem Schreiben zuhause.
Manches, was diesem Dichter in der DDR widerfahren ist, mag ihm in seiner Sinnlosigkeit vorgekommen sein wie der lawinentolle Wind in dem Gedicht „Gleichnis“, ein in strengem Metrum verfasster Text, so als wollte der Autor, indem er sich diesem unterwarf, gleichsam seine Wut zähmen. Die Natur ist rücksichtslos, aber manchmal sind es auch die Menschen, besonders dann, wenn sie ihre Macht mißbrauchen. Sie brüllen wie Tiere, aber die Anderen hüllen sich in Schweigen: die Demonstration der Macht läuft ins Leere.

Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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